DAS LANGZEITEXPERIMENT AUROVILLE

Für einen Großteil der Menschen Europas ist der Name „Auroville“ unbekannt. Nur eine Minderheit weiß was sich hinter diesem Namen verbirgt. Immerhin fassen zwischen 50 und 100 Europäer jährlich den weitreichenden Entschluss ein neues Leben in Auroville zu beginnen. Ein Leben, vor allem abseits materieller Sehnsuchtserfüllung, ein Leben mit der täglichen Auseinandersetzung um spirituelle Wahrheit und ein Leben mit der Fähigkeit zur ständigen Neuimprovisation des an Problemen nicht armen Alltags.

Auroville steht als Name für einen Ort im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu und gleichzeitig für ein Experiment welches in den späten 60erJahren des letzten Jahrhunderts seinen Anfang nahm. In der Schaffung eines Ortes „frei von politischen und religiösen Einflüssen, zu einem friedlichen Miteinander für alle Menschen dieser Welt“ sah die in Frankreich geborene Mira Alfassa, von der Auroville-Gemeinschaft „The Mother“ genannt, ihre irdische Aufgabe. Gemeinsam mit ihrem spirituellen Lehrmeister und Weggefährten, dem indischen Philosophen Sri Aurobindo, erarbeitete sie über Jahrzehnte ein spirituelles Konzept zur Verbesserung des Zustandes der Menschheit. Am Ende trug dieses geistige Werk den Namen Auroville. Seit seiner Gründung im Jahr 1968 versuchen Menschen aus gegenwärtig 50 Nationen der immensen Herausforderung nach einem großzügig-bescheidenen Dasein nach zukommen. Und so geschahen und geschehen an diesem schwül-heißen subtropischen Ort kleine und größere von Menschen verursachte Wunder. Individuelles Handeln zu Gunsten eines übergeordneten gemeinschaftlichen Lebens ist jener Grundsatz, den derzeit ca. 2500 Aurovillianer anscheinend doch mit Erfolg in ihr Leben zu integrieren versuchen. Denn aus der vom Westen belächelten und kritisierten Gemeinschaft vermeintlicher Althippies und Verantwortungsverweigerer ist längst ein Gebilde geworden, das zwar noch immer mit großer Energie um seine Existenz ringen muss, auf der anderen Seite aber bereits seit Jahren interessierte Vertreter von Regierungen der unterschiedlichsten Länder der Erde empfängt um diesen ihr Erfolgsmodell zur Lösung sozialer und ökologischer Probleme vorzustellen.

Die Dokumentation „Das Langzeitexperiment Auroville“ ist eine stille Beobachtung von mehreren Mitgliedern der Auroville-Gemeinschaft. Jene, die seit den ersten Jahren an der Fruchtbarmachung des Bodens mitwirkten und jene, die heute aus ihren persönlichen Überzeugungen eine große Last auf die Schultern nehmen um die Idee von Auroville in die Zukunft zu tragen. Es ist der von allen gelebte Alltag – zwischen immer größer werdenden Touristenströmen – und der Umsetzung neuer Ideen zu nachhaltiger Energienutzung und ökologischer Land- und Forstwirtschaft, der im Fokus dieses Films steht. Ein Alltag zwischen einem grandiosen Schulsystem, wie es in Europa nur erträumt werden kann, einem großartigen Kultur- und Kunstreichtum und dem Bangen, dass auch Auroville und seine Ideale von der Entwicklungsfähigkeit des Menschen hin zu einem „strahlenden Wesen“ immer wieder von der Realität des gegenwärtigen, sehr unvollkommenen Homo sapiens eingeholt und in seiner Entwicklung beeinträchtigt werden könnte.


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Zentrum Auroville Feburar 2013 und Auroville Pour Tous-Supermarkt

Zum Inhalt
Immer wieder versuchen sich Menschen weltweit an der Realisierung großer idealistischer Ideen. Ideen die sich vor allem um die Schaffung einer neuen Welt und damit der Verbesserung eines verwahrlosten Zustandes der Menschheit widmen. Diese Verbesserung soll vor allem durch religiöse, wirtschaftliche, ökologische und friedensstiftende Maßnahmen erzielt werden. In allen bisher bekannten Projekten fand immer eine Zusammenführung unterschiedlicher Kulturgesellschaften statt. Über die Schaffung einer naturnahen Architektur, Verschmelzung der unterschiedlichen Künste und Kulturäußerungen, verstärkter sozialer und edukativer Strukturen innerhalb der multinationalen Gemeinschaft und der Etablierung religiöser Rituale lief in den meisten Fällen dann das Experiment zu einer „Besseren Welt“ ab. Als wesentliches Element für ein Gelingen wird in vielen Fällen die Weglassung hierarchischer Strukturen gefordert.



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Auroville 1972

Gegenwärtig ist von in dieser Weise motivierten und handelnden Gemeinschaften erstaunlich wenig zu vernehmen, obwohl z. B. der Zustand der westlichen Gesellschaften zur Frage führt auf welche Weise Menschen ihren verstärkt unbefriedigend werdenden Lebenszustand verändern könnten.
Der Preis, mit dem die Absicht zu einer derartigen maßgeblichen Veränderung des eigenen Lebens verbunden ist, war und ist immer sehr hoch. Er heißt Verzicht. Und für viele mit durchwegs seriösen Gedanken und Entschlüssen zur Veränderung wird dieser Begriff letztendlich zum Hindernis. Ein zweites entscheidendes Verhinderungskriterium ist die Absicht der geplanten Gemeinschaftsexistenz in Hierarchielosigkeit. Früher oder später fällt der Mensch in die Falle der Hierarchiebestrebung. Behauptung innerhalb der Gemeinschaft scheint ein unvermeidbarer menschlicher Wesenszug zu sein und jeglichem autoritätsverflachendem System entgegengesetzt.

Deshalb ist es überraschend und beeindruckend, dass eines jener utopischen Projekte, die interessanterweise zahlreich in den 60erJahren des letzten Jahrhunderts entstanden, heute noch immer „am Leben“ ist und sogar mit beachtlichen Wachstumszahlen aufhorchen lässt.



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nahezu 50 Jahre Geschichte in den Archiven von Auroville

Auroville entstand aus der Überzeugung zur Schaffung eines Ortes an dem eine friedliche Weltgemeinschaft abseits politischer, nationaler und religiöser Beeinflussung existieren sollte. Fast 50 Jahre nach ihrer Gründung befinden sich die Stadt Auroville und ihre Bewohner noch immer im Stadium des Experiments. Ein Experiment mit Fehlschlägen, großen Fortschritten, mit viel Hoffnung und immer am Rande des finanziellen Ruins – aber noch immer lebend. Was am Experiment Auroville erstaunt ist die Tatsache dass der gewünschte persönliche materielle Verzicht als Bedingung durchwegs bewusst gelebte Realität ist. Ein hierarchisches Organisationssystem ist ebenfalls nicht vorhanden. Diese beiden Tatsachen unterscheiden das Projekt Auroville von anderen, längst von der Karte verschwundenen Modellen. Aus diesen oben genannten Gründen wird ein filmisch-vertiefender Blick auf und in den Organismus Auroville zu einer aufschlussreichen Reise zu jener 2500 Köpfe zählenden Gemeinschaft im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, der gegenwärtig auch 12 Österreicher angehören.

Produktion: Vermeer-Film
im Auftrag von: ORF/Religion

Autor: Herbert Eisenschenk

Produktionsbeginn: Ende August 2013

Produktion abgeschlossen Dezember 2013